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Eingangsbereich des Bundessozialgerichts.

Dass Menschen mit Behinderungen besondere Schwierigkeiten haben, eine passende Wohnung zu finden, ist nichts Neues. Ein Urteil des Bundessozialgerichts eröffnet Möglichkeiten, die Erfolgschancen bei der Suche nach einer angemessenen Wohnung zu erhöhen. Unser Rechtsexperte Manuel Salomon hat sich das Urteil genauer angeschaut.

Die Chancen auf dem Wohnungsmarkt für „Rollstuhlnutzende“ und für „ältere Menschen“ sind weiterhin schlecht. Zu diesem Ergebnis kamen knapp 300 Fachleute aus Wohnungs- und Bauwirtschaft, Kommunalverwaltungen, Kreditinstituten, Wissenschaft und Interessenverbänden. Deren Einschätzung lässt sich aktuell nachlesen im „Wohnungsmarktbarometer 2023“ der nrw bank .

Das Wohnungsmarktbarometer bietet den Anlass, nochmals auf ein Urteil des Bundessozialgerichts von Oktober 2022 hinzuweisen (vgl. bereits unseren Hinweis dazu anhand des Terminsberichts). Unser Hinweis konzentrierte sich seinerzeit auf die Verpflichtung des Kostenträgers, unter bestimmten Voraussetzungen bei der Wohnungssuche zu unterstützen. Leistet der Kostenträger eine solche erforderliche Unterstützung nicht, dann sind die tatsächlichen Unterkunftskosten als angemessen zu beurteilen.

Außerdem können behinderungsbedingte Besonderheiten zu angemessen Unterkunftskosten führen, die im Einzelfall über den abstrakt angemessenen Aufwendungen liegen – und zwar unabhängig von notwendiger Unterstützung durch den Kostenträger.

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts

Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 06.10.2022, B 8 SO 7/21 R (wieder einmal) betont:

„[Es kommt] darauf an, ob die Aufwendungen den die ,Besonderheiten des Einzelfalls angemessenen Umfang' übersteigen. Deshalb ist zu prüfen, ob und inwieweit Aufwendungen konkret angemessen sein können, weil relevante Besonderheiten des Einzelfalls vorliegen. Liegen solche Besonderheiten vor, können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus im Rahmen des § 35 Abs 2 SGB [X]II aF angemessen sein und dem Leistungsberechtigten einen Verbleib in der Wohnung ermöglichen [heute inhaltsgleich: § 35 Abs. 2 Satz 2 SGB XII].“

Klägerin und Kläger in dem zugrundeliegenden Verfahren sind Eheleute und beziehen beide Erwerbsminderungsrenten neben Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII (Ehefrau) bzw. neben einem Einkommen aus der WfbM (Ehemann). Beide Eheleute sind schwerbehindert. Die Ehefrau hat Epilepsie, der Ehemann eine Intelligenzminderung.

Für eine abschließende Entscheidung hat das BSG die Sache ans Landessozialgericht zurückverwiesen. Unter anderem sei noch zu klären, inwieweit der Wohnungsmarkt für Klägerin und Kläger tatsächlich behinderungsbedingt schlechter zugänglich bzw. verschlossen ist.

Zum abstrakt angemessenen Mietpreis seien zwar typischerweise Wohnungen verfügbar. (vgl. Randnummer 25 unter Hinweis auf BSG vom 13.4.2011 - B 14 AS 106/10 R).

Für Personengruppen mit besonderen Zugangshindernissen zum Wohnungsmarkt gelte diese Schlussfolgerung allerdings nicht zwangsläufig.

„Der Zugang zum Wohnungsmarkt ist für Menschen mit geistigen, psychischen oder seelischen Behinderungen generell erschwert, etwa durch Vorbehalte von Vermietern gegenüber diesem Personenkreis [Es folgen Nachweise]. Erkennbare Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten können die Chancen auf angemessenen Wohnraum daher mindern“.

Zum Hintergrund der Entscheidung

"Angemessene Unterkunftskosten" bestimmen sich in vier Schritten

Erstens ist die erforderliche Wohnfläche zu bestimmen.

Zweitens wird bestimmt, in welchem räumlichen Bereich Wohnungspreise verglichen werden.

Drittens wird ein Quadratmeterpreis ermittelt, zu dem in dem maßgeblichen Gebiet typischerweise Wohnungen mit einfachem Standard verfügbar sind. Es gibt bestimmte Regeln, wie dieser sogenannte abstrakt angemessene Quadratmeterpreis zu ermitteln ist.

Davon ausgehend erstellen die Kommunen meist ein sogenanntes „Schlüssiges Konzept“ (bzw. lassen es durch Dienstleister erstellen). Aus diesem „Schlüssigen Konzept“ ergeben sich die Angemessenheitsgrenzen, die in den Merkblättern stehen (zusammen mit den erforderlichen Wohnflächen).

In einem abschließenden vierten Schritt ist zu prüfen, ob die konkrete leistungsberechtigte Person in ihrer konkreten Lebenssituation zu dem typischen, abstrakt angemessenen Preis tatsächlich eine für sie nutzbare Wohnung bekommt. Beispielsweise muss ein Mensch, der einen Rollstuhl nutzt, tatsächlich eine rollstuhlgerechte Wohnung anmieten können, für die er dann auch tatsächlich einen Mietvertrag bekommt.

Anmerkung des KSL Arnsberg

Dass Menschen mit Behinderungen besondere Schwierigkeiten haben, eine passende Wohnung zu finden, ist nichts Neues. Beispielsweise sind aufgrund von Beeinträchtigungen bestimmte Ausstattungsmerkmale der Wohnung erforderlich (Barrierefreiheit, Nutzbarkeit mit dem Rollstuhl), die Lage der Wohnung muss bestimmten Anforderungen genügen (ÖPNV-Anbindung; Pflegeinfrastruktur), oder Vermieter*innen fehlt die Bereitschaft, „komische“ Verhaltensweisen zu tolerieren. Hinzu kommen die allgemein bekannten Probleme von Wohnungsnot und hohen Preisen (vgl. im Einzelnen z.B. Günther/Abraham; Wohnsituation von Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg; 2020, S. 31ff., die Situation in NRW ist insgesamt nicht besser.)

Das Urteil vom 06.10.2022, B 8 SO 7/21 R stellt klar, dass die typischen Wohnungen, auf die Empfänger*innen von Grundsicherung verwiesen werden (dürfen), für Menschen mit Beeinträchtigungen oft nicht passen und nicht geeignet sind, den individuellen Wohnbedarf zu decken. In der Konsequenz sind dann andere, auch teurere Wohnungen durch den Grundsicherungsträger zu finanzieren.

Diese Schlussfolgerung ergibt sich zwar (eigentlich) bereits aus der Systematik der Unterkunftskosten, wie sie von der Rechtsprechung in den letzten Jahren entwickelt wurde. Aber jetzt steht sie auch mal ausdrücklich aufgeschrieben.

In einer Entscheidung von Oktober 2021 hatte das BSG übrigens klargestellt, dass „[für den Wohnbedarf] relevante Besonderheiten des Einzelfalls“ den Leistungsberichtigten [nicht nur] den Verbleib in der Wohnung ermöglichen [können]. Darüber hinaus erweitern sie bei einem Wohnungswechsel den verfügbaren angemessenen Wohnraum (BSG, Urteil vom 21.07.2021, B 14 AS 31/20 R, Randnummer 36).

Erforderliche Umzüge werden also einfacher, weil die mögliche neue Wohnung anhand der im Einzelfall konkret angemessenen Kosten zu beurteilen ist. Erforderliche barrierefreie Wohnungen sind danach also konkret angemessen und nicht „zu teuer“.

Bisher wurden hier oft die abstrakten Zahlen aus den Schlüssigen Konzepten als Obergrenze betrachtet. Das hat jetzt hoffentlich ein Ende!

Kontakt

Manuel Salomon

Manuel Salomon
E-Mail manuel.salomon@ksl-arnsberg.de